Buchkritik -- Thor Vilhjálmsson -- Morgengebet

Umschlagfoto  -- Thor Vilhjálmsson  --  Morgengebet Im 13. Jahrhundert ist die Geschichte Islands geprägt von blutigen Clanfehden und dem zunehmenden Einfluss norwegischer Könige, die in der Kirche einen mächtigen Verbündeten besaßen. Die vorangegangenen Periode der Christianisierung legte mit der Tatsache, dass die isländischen Häuptlinge auch gleichzeitig christliche Priester geworden sind, und durch den Kirchenzehnt eben diesen Clanchefs in ihrer Doppelfunktion als Priester und Grundherren enormer Reichtum zufloss, die Basis für die Auseinandersetzungen, die Thor Vilhjálmsson in seinem Roman Morgengebet beschreibt.

Sturla Sighvatsson ist ein Familienmitglied im mächtigen Clan der Sturlungen. Sein Leben, seine Taten, sein Suchen nach Vergebung und letztendlich sein Scheitern bietet dem Leser, wortgewaltig und kraftvoll beschrieben durch Vilhjálmsson, ein grandioses Panorama einer Epoche, die durch Gewalt und Intrigen gekennzeichnet war.

Morgengebet ist ein, im besten Sinn, historischer Roman, der, mit einiger schriftstellerischer Freiheit, eine Zeit des Umbruchs beschreibt. Sturla unternimmt inmitten dieser Zeit politischer und religiöser Wirren eine Pilgerfahrt nach Rom und will auf diesem Weg durch den Papst für seine Sünden Vergebung zu erlangen.

Thor Vilhjálmsson erzählt auf zwei Ebenen von dem Versuch eines Menschen, der gefangen scheint zwischen archaischem Denken und gewalttätigem Handeln einerseits und dem Einfluss neuer Gedanken und neuer politischer Spielregeln andererseits, sich dem Neuen und der Herausforderung einer anstehenden Veränderung zu stellen. Der Autor zeigt die Person Sturla Sighvatsson als einen Menschen, der das Alte, das nicht mehr Funktionierende noch nicht überwunden hat, der jedoch auch noch nicht dazu in der Lage ist, das Neue zu verinnerlichen. Dieser Zwiespalt zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen individueller Schuld und angestrebter Absolution, die zweifelsohne nur erreicht werden kann, wenn das Individuum sich seiner Schuld bewusst wird und diese, um es modern auszudrücken, reflexiv verarbeitet, kann von ihm noch nicht überwunden werden.

Eben weil Sturla noch nicht dazu bereit ist, noch nicht dazu bereit sein kann, weil seine Psyche noch den Regeln der Vergangenheit unterworfen ist, muss sein Versuch Vergebung zu erlangen, zwangsläufig scheitern. Anstelle der erhofften Vergebung durch den Papst beschreibt Thor Vilhjálmsson dann auch folgerichtig einen blasphemischen und surreal anmutenden Narrenumzug in Rom, dessen Mittelpunkt Sturla ist. Vergebung und Erlösung bleiben ihm verwehrt, seine Pilgerfahrt war vergebens.

Sprachmächtig - kongenial übersetzt von Gert Kreutzer - und mit grandiosen Bildern führt Thor Vilhjálmsson seine Leser sowohl durch die Berge Islands als auch auf eine Pilgerfahrt nach Rom. Man spürt die Kälte des isländischen Winters, man vermeint den Duft des isländischen Frühlings wahrzunehmen, man nimmt Teil an blutigen Auseinandersetzungen und man wird mitgerissen vom Karneval des Römischen Plebs.

Nicht zuletzt diese Fähigkeit der plastischen literarischen Schilderung haben Thor Vilhjálmsson zu einem führenden Schriftsteller Islands gemacht. Er verstarb am 2. März 2011.




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