Buchkritik -- I. F. Stone -- Der Prozess gegen Sokrates

Umschlagfoto  -- I. F. Stone  --  Der Prozess gegen Sokrates Der Prozess gegen Sokrates und seine Verurteilung zum Tode durch den Schierlingsbecher kennen wir alle nur durch Platons Dialoge. Von Sokrates selber ist nichts Schriftliches überliefert. Die Nachwelt muß sich also ausschließlich auf den Wahrheitsgehalt der platonischen Schilderung verlassen.

Der ehemalige Journalist I. F. Stone ging nun der Frage nach, was dem Sokrates in Wahrheit vorgeworfen wurde und in welcher Beziehung der Philosoph zu seiner Heimatstadt Athen stand. Er macht dabei deutlich, das es keinesfalls die allgemein bekannten Gründe, Gotteslästerung und Verführung der Jugend, waren, welche dem Sokrates vorgeworfen wurden, sondern es waren handfeste politische Motive, weshalb ihm der Prozess gemacht wurde.

Es waren, so Stone, drei wesentliche Dinge, die zu einer Anklage führten:

Sokrates wollte die Demokratie abschaffen

Er hatte einen unerreichbar hohen Begriff von der Tugend

Er rief zu einem Rückzug aus dem politischen Leben auf.

Diese drei Punkte brachten ihn in direkten Konflikt mit den Bürgern Athens. Stone sucht und findet Beweise für seine Theorie, doch sie sind eben nicht schlüssig. Bei all seinen Versuchen, die drei Anklagepunkte zu untermauern, geht er von einem Demokratieverständnis des 20. Jahrhunderts aus. Im Griechenland des 4. vorchristlichen Jahrhundert beschränkte sich die Demokratie auf wenige Bürger, die meisten waren Sklaven oder besaßen keine Bürgerstatus. Insofern konnte Sokrates nur für einige wenige eine echte Gefahr bedeuten. Schon seine drei Hauptankläger machen dies deutlich.

Meletos, Lykon und Anytos, diese drei Männer formulierten die Anklage. Mit Ausnahme von Anytos, gibt es keine Informationen über seine Ankläger. Was wir wissen, stammt von Platon. In der Apologie teilt er uns mit, das Lykon im Namen der Redner und Meletos im Namen der Dichter an der Anklageerhebung beteiligt waren. Anytos aber vertrat die Handwerker und die politische Führung. Über ihn ist uns etwas mehr überliefert, doch an dieser Stelle sollen diese Einzelheiten keine Bedeutung haben.

Interessanter ist vielmehr die Zusammensetzung der Anklagevertreter. Redner, Dichter, Handwerker und die politische Führung bildeten eine Koalition und machten Sokrates den Prozess. Es war anscheinend ein Zusammenschluss der Bürgerschaft Athens - man denke daran, wer in der damaligen Zeit ein Bürger Athens war - welche die Anklage erhob.

Rufen wir uns ins Gedächtnis, welcherart das Philosophieren des Sokrates war. Er stellte kein System auf, sondern sein Anliegen war es, die Dinge zu definieren. Ohne eine klare Vorstellung von den Begriffen wie z. B. Tugend und Glück, war es für ihn nicht möglich, eine Diskussion darüber zu führen. Mit seinen Fragen stellte er also das bügerliche Selbstverständnis in Frage, er versuchte die Mauern der "Selbstverständlichkeit" zu durchbrechen. Kein Wunder, das ihm die Bürger Athens den Prozess machten.

Er scheint mit seiner Vorgehensweise bei der damaligen Jugend einige Sympathie besessen zu haben. Dies wiederum mißfiel dem athenischen "Establishment". Es brachte Sokrates zum Schweigen. Alle drei Anklagepunkte lassen sich zu einem einzigen zusammenfassen: Die Bürger von Athen hatten Angst vor Veränderungen. Deshalb die Anklage wegen Verführung der Jugend.

Fragen zu stellen über scheinbar selbstverständliche Dinge bedeutet den Alltag selber in Frage zu stellen. Stone macht Sokrates an einer Stelle seines Buches den Vorwurf, das er gegen eine offene Gesellschaft sei. Die griechische Polis war alles andere als eine offene Gesellschaft. Wieder setzt Stone hier einen modernen Betrachtungsstandpunkt an, der zur Zeit Sokrates nicht relevant sein konnte.

Im Prinzip ist das Buch von Stone ein Buch gegen Platon und seine Philosophie. Da der überwiegende Teil des uns heute bekannten Materials über Sokrates aus der Feder Platons stammt, wäre es besser gewesen, wenn Stone ein Werk über Platon und seine Einstellung zur Polis verfasst hätte. Das Buch über den Prozess gegen Sokrates und seine Hintergründe jedenfalls ist gescheitert.




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