Buchkritik -- Peter Stamm -- Nacht ist der Tag

Umschlagfoto, Peter Stamm, Nacht ist der Tag, InKulturA Wenn vom Leben, so wie man es gewohnt war, nichts mehr übrig bleibt. Wenn die schöne, jedoch immer brüchige Fassade zerstört ist und nur noch die nackte Existenz gerettet scheint, dann kommt der Moment des Erschreckens darüber, wie dünn der Firnis der Selbstzufriedenheit, wie fragil das Leben und wie gefährdet die scheinbare Behaglichkeit des Alltags in Wirklichkeit ist.

Gillian, erfolgreiche Fernsehmoderatorin, wacht nach einem Autounfall, bei dem ihr Ehemann getötet wurde und sie selber schwere Gesichtsverletzungen erlitt, in der Klinik auf. Die Karriere scheint beendet und das gewohnte Leben mit Designermöbeln, Städtereisen und teuren Restaurantbesuchen gehört der Vergangenheit an. Noch im Krankenbett beginnt sie, ihr Leben zu rekapitulieren und muss schmerzhaft erkennen, wie hohl, wie belanglos und wie fremdbestimmt ausgerechnet das war, von dem sie glaubte, es fest im eigenen Griff zu haben.

Im Rückblick, den sie schonungslos unternimmt, wird ihr klar, das ihre ganze Existenz auf Lügen und falschen Vorstellungen aufgebaut war. Sie, die es gewohnt war, immer im Mittelpunkt zu stehen, erfährt auf einmal die Einsamkeit. Das schwierige Verhältnis zu den Eltern schlägt erneut tiefe Wunden und die ehemaligen Kollegen leben weiter in einer Welt, die Gillian jetzt als Fassade zu verstehen lernt.

Peter Stamm erzählt in seinem Roman "Nacht ist der Tag" jedoch nicht nur die Geschichte einer Frau, die dazu gezwungen ist, sich selber neu zu definieren, sondern parallel dazu auch die von Hubert, einem Künstler, dem Gillian einst Modell gestanden hat.

Dreht sich der erste Teil des Romans um eine Frau, die es unternimmt, aus den Trümmern ihrer selbst gewählten Existenz einen Neuanfang zu wagen, handelt der zweite Teil - sechs Jahre später - von Hubert, der inzwischen eine Professur an der Hochschule hat. Er, der sich für einen Künstler hält, hat eine Schaffenskrise und an der lässt Peter Stamm seine Leser gnadenlos teilhaben.

Zeichnet der erste Teil des Romans ein bewegendes Bild einer Frau, die lernen muss, wie zerbrechlich und, im Nachhinein betrachtet, wie sinnlos ihr Leben gewesen ist und die sich daranmacht, aus den Scherben ihrer Existenz eine neues, bessere Sein zu entwerfen, kommt der zweite Teil dermaßen arg stolpernd daher, dass der Leser doch nicht wenig Energie bedarf, um das Leben Huberts zwischen verzweifelt gesuchter Freiheit und der gleichzeitigen Angst davor zu ertragen.

Als Künstler längst unbedeutend, als Hochschullehrer unmotiviert und als Mensch ohne Ziel und Elan, sucht er durch die Beziehung zu Gillian, die inzwischen als Clubanimateurin der gehobenen Kategorie ihr Geld verdient, eine Veränderung seines Lebens zu erreichen. Natürlich scheitert dieser Versuch und Hubert bleibt in seiner kleinen sicheren Welt gefangen.

"Nacht ist der Tag" ist ein zwiespältiger Roman. Auf der einen Seite das Bild einer Frau, die es wagt, den kompletten Neustart ihres Lebens zu wagen. Das ist eine hoch interessante Geschichte, die von Peter Stamm mit außergewöhnlichem Einfühlungsvermögen erzählt wird. Dagegen bleibt Hubert seltsam konturlos und bleibt so sehr in seinem Selbstmitleid und seiner Unfähigkeit zur Veränderung gefangen, dass der Leser für diese Figur herzlich wenig Sympathie empfinden kann.




Meine Bewertung:Bewertung