Buchkritik -- Franco Moretti -- Der Bourgeois

Umschlagfoto, Franco Moretti, Der Bourgeois, InKulturA Der Bürger ist anscheinend aus der Mode geraten. War der Begriff Bourgeois noch vor wenigen Jahren ein beliebter Kampfbegriff der politischen Avantgarde, so ist dieser mitsamt dessen Milieu, der Bourgeoisie, vom Radar gesellschaftlich-politischer Theorien nahezu verschwunden. Der Bürger, so scheint es zumindest, ist eine ausgestorbene Spezies.

Um dem Bourgeois auf die Spur zu kommen, ist also ein Rekurs auf dessen Manifestationen in der Vergangenheit notwendig. Diese Arbeit unternimmt der in Italien geborene Literaturwissenschaftler Franco Moretti, der die Figur des Bourgeois in seiner literarischen Blütezeit untersucht.

Moretti, der mehr ein literarischer Statistiker denn ein Interpret ist, wurde durch seine Arbeit, Bücher auf bestimmte Adjektive, Substantive oder Präpositionen zu untersuchen, bekannt. Diese Methode benutzt er ebenfalls, um diesem heute unbekannten Wesen des Bourgeois auf die Schliche zu kommen.

Dieses Wesen ist für ihn ein Angehöriger der am Ende des 18. Jahrhundert auftauchenden Klasse, die die Ablösung des Adels als bisherigen Herrscher der Welt betreibt. Der Bürger ersetzt die in Zeiten der Industrialisierung obsolet gewordenen Werte und Rituale des Adels durch neue Paradigmen. Macht und Reichtum ersetzen Prominenz und Bewunderung. Sich selbst, zumindest in England, dem Mutterland der industriellen Revolution, als "middle class", als gesellschaftliche Gruppe zwischen dem Arbeiter und den exorbitant Reichen bezeichnend, lebt der Bürger als zahlen- und erwerbsgesteuertes Wesen, dessen soziale Mobilität nur noch durch seine Fähigkeit Risiken einzugehen, sie einzuschätzen und unter Gewinnmaximierungsgedanken zu minimieren, übertroffen wird.

So ist der erste literarische Gewährsmann Morettis denn auch der Schiffbrüchige Abenteurer Robinson Crusoe, der, alle Warnungen seines Vaters missachtend, auf einer einsamen Insel stranded und dort, trotz Existenzsicherstellung, nicht müde wird, jeden Tag aufs Neue die Tretmühle ewiger Arbeit zu bedienen. Nichts da mit entspanntem Faulenzen in der Sonne, immer wieder ruft die Arbeit, deren Klang Crusoe nur all zu gern Folge leistet.

Der Bourgeois als rastloser Entrepreneur und strenger Buchhalter seiner Aktivitäten, ist das Kennzeichen bürgerlicher Mentalität, so jedenfalls lautet die zentrale Aussage Morettis. Diese, so wiederum der Autor, manifestiert sich nicht in "klaren und eindeutigen Ideen", sondern in "unbewussten grammatischen Mustern und semantischen Assoziationen". Hier begegnet der Bürger seinem Dämon, der ihn immer wieder antreibt, seine Produktivität bis ins Extreme zu steigern und niemals die Frage nach dem Sinn zu stellen. Der Bürger ist ein Getriebener seiner eigenen Lebenslüge, von Moretti pointiert anhand Ibsens Dramen herausgearbeitet, der seine moderne Wiedergeburt in Bankern und Finanzmarktspekulanten gefunden hat.

Dabei, kratzt man etwas an der Oberfläche des seinem eigenen Optimierungswahn Unterworfenem, und letztendlich auch dessen Opfer, kommt ein zutiefst langweiliges Subjekt zum Vorschein, dessen Lebenswelt "die Impotenz des bürgerlichen Realismus gegen die Megalomanie des Kapitalismus" darstellt. Der Bourgeois ist eine, so jedenfalls deutet es Franco Moretti an, erbärmliche Figur, und doch verfolgt uns dessen Geist bis in die Gegenwart.




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Veröffentlicht am 1. März 2015