Buchkritik -- Kettly Mars -- Die zwielichtige Stunde

Umschlagfoto, Buchkritik, Kettly Mars, Die zwielichtige Stunde, InKulturA Was macht ein Mann im haitianischen Port-au-Prince, dessen materielle Ausstattung weit hinter seinen körperlichen Vorzügen zurückbleibt? Jean François Eric L'Hermitte, in einschlägigen Kreisen bekannt als Rico, macht aus seiner Not eine Tugend und betätigt sich als Gigolo. Das Erfinden immer neuer Lebensläufe und Identitäten fällt ihm ebenso wenig schwer wie die Tatsache zu akzeptieren, dass sein bescheidener Besitz das Resultat seines angenehmen Äußeren und seiner Fähigkeit als Liebhaber ist. Er ist ein gern gesehener Gast auf den Partys der Reichen und Schönen und zudem Stammgast bei den Donnerstagabenden bei Patrice.

Nach einem solchen erwacht Rico am späten Nachmittag, sich mental und körperlich wieder auf seine nächtlichen Beutezüge weiblicher Großzügigkeit vorbereitend. Dabei gleiten seine Gedanken einmal mehr zurück in seine Jugendzeit, die wesentlich durch die sehr enge Beziehung zu seiner Mutter geprägt war. Sie, den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn als Prostituierte verdienend, ist für Rico, der immer nur eine schmale Wand entfernt war von der mütterlichen Erwerbstätigkeit, nicht nur die zentrale Figur seines Lebens, sondern erlangt im Lauf der Zeit einen Heiligenstatus, dem keine andere Frau gerecht werden kann.

Es ist ein sympathischer Zyniker, den Kettly Mars von sich erzählen lässt. Fest eingebunden in die gesellschaftliche Hierarchie, akzeptiert Rico seinen Platz, weiß jedoch um die oftmals fragwürdigen politischen Machenschaften und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Missstände. Die Welt ist nun einmal so, wie sie ist und wer die falschen Fragen stellt, z. B. ein kritischer Journalist, erfährt schnell die hässliche Seite der Macht. Jean François Eric L'Hermitte kann so etwas nicht passieren, denn er kennt sich aus im Geflecht der Abhängigkeiten, das bei Ricos nächtlichen Abenteuern mit einem Gemisch aus Alkohol, Drogen und sexuellen Exzessen die gesellschaftlichen Diskrepanzen scheinbar nivelliert.

Gerade weil Rico darum weiß, dass er zwar bei den Partys dabei ist bzw. sein darf, jedoch niemals dazugehören wird, ist er dazu in der Lage, hinter die Kulissen zu blicken und sich auf seine Weise am System schadlos zu halten. Doch er ist sich auch darüber im Klaren, dass er von geborgter Zeit lebt. Sein Körper, noch gut in Form für einen Mann seines Alters, ist sein einziges Kapital, dass, wenn der Zahn der Zeit daran nagt, zusehends schwinden wird und damit droht auch ihm das Schicksal vieler seiner Zeitgenossen, die Armut. Vorerst jedoch hat er genug damit zu tun, eine neue Erfahrung, die er bei einer „Soiree“ bei Patrice gemacht hat, zu verarbeiten.

Vier Stunden, so viel Zeit lässt Kettly Mars dem haitianischen Underdog Jean François Eric L'Hermitte, um sein Leben Revue passieren zu lassen und übt damit gleichzeitig auch harsche Kritik an den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Inselstaates, der den meisten seiner Bürger wenig Zukunftsperspektiven bietet. Armut oder Selbstausbeutung, Rico hat sich für eine Seite entschieden.




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Veröffentlicht am 3. September 2018