Buchkritik -- István Kemény -- Liebe Unbekannte

Umschlagfoto, István Kemény, Liebe Unbekannte, InKulturA István Kemény lässt gegen Ende seines Buches einen ungenannten Autor einen Roman veröffentlichen, der den Titel "Wunderbare Weitschweifigkeit" trägt. Das ist dann auch das Motto, besser gesagt, eine Art Gebrauchsanweisung, mit deren Hilfe der Leser teilnimmt an einem großartigen Panorama des spätkommunistischen Ungarns während der 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts.

Tamás Krizsán, das jüngste Kind der 5-köpfigen Familie lebt mit seinen Eltern und seinen beiden Schwestern in Nyék, einem Budapester Vorort. Er ist es, den István Kemény in seinem Roman "Liebe Unbekannte" die groß angelegte Familiengeschichte erzählen lässt, die gleichzeitig ein Bild der ungarischen Ära zeichnet, die unter dem Begriff "Gulaschkommunismus" Eingang in die Geschichtsbücher gefunden hat.

Es ist eine Zeit, die bereits, besonders bei den Jüngeren, von der Sehnsucht nach Veränderung und nach politischer Freiheit geprägt ist, an deren Schaltstellen jedoch noch die systemkonformen Kader sitzen. Tamás, wie auch alle anderen Familienmitglieder, lernt schnell, dass es fatale Auswirkungen haben kann, wenn man zur falschen Zeit und vor den falschen Leuten seine Gedanken zum Ausdruck bringt. Sein Vater István weiß dies aus eigener Erfahrung, da ihn die Beteiligung am Ungarn-Aufstand im Jahr 1956 als politisch unzuverlässig gebrandmarkt hat und seinen beruflichen Werdegang abrupt gestoppt hat. Einzig die Stelle als Nachtwächter in einer Konservenfabrik war für ihn noch möglich.

Es ist nicht zuletzt die erzählerische Meisterschaft von István Kemény, die dafür sorgt, dass der Roman, resultierend aus den von seinen Figuren angewandten Umschreibungen für gesellschaftlich-politische Missstände, mit einem widerspenstiger Humor bezüglich der politisch-korrekten, jedoch kritischen Betrachtung der Ära Kádár durchzogen ist.

"Liebe Unbekannte" ist ein Familien- und Generationenroman, der weniger durch eine konsistente Handlung geprägt ist, sondern vielmehr durch eine teilweise subtile, teilweise aber auch derbe Darstellung der Personen. Er ist das Bild einer Gesellschaft, die sich in einer Zwischenzeit befindet. Da gibt es die unvermeidlichen Mitläufer, die von ihrer politischen Linientreue profitieren. Da gibt es aber auch die Mutigen, die bereits vom Ende des Sozialismus träumen. Es ist deren Angst, wie es István Kemény so wunderbar zum Ausdruck bringt, sich, wie der Lauf der Donau, weg von Europa zu bewegen. Flucht und Ausreise werden Synonyme für das gelobte Land, dass Ausland heißt.

István Kemény hat mit großem literarischem Gespür für die Schicksale seiner Figuren einen Roman geschrieben, der so prall und so wuchtig, gleichzeitig jedoch auch sensibel und humorvoll daherkommt, dass der Leser Zugang erhält zu einer in dieser Form noch nicht erzählten Ära der ungarischen Geschichte.




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