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Buchkritik -- Jón Atli Jónasson -- Gift

Umschlagfoto, Buchkritik, Jón Atli Jónasson, Gift, InKulturA Wenn Sozialarbeit plötzlich Kriminalliteratur sein will, dann heißt das wohl „Gift“. Jón Atli Jónassons zweiter Roman um Dora und Rado zeigt, wie man aus einem vielversprechenden Ermittlerduo eine Selbsthilfegruppe mit Dienstmarke machen kann.

Da stirbt ein LKW-Fahrer, ein Rettungssanitäter folgt, beide vergiftet von „Morpho“, einer neuen Droge, die offenbar in Island Einzug hält, man weiß nicht, ob man an „Breaking Bad“ denken soll oder an die nächste Folge einer isländischen Sozialreportage. Dora, angeschossen, operiert, halb arbeitsunfähig, kämpft mit Medikamentenabhängigkeit und Gedächtnislücken. Rado, aus gutem Hause, aber mit kriminellem Schwiegervater, trägt die soziale Hypothek seines Umfelds wie ein Brandmal. So weit, so nordisch deprimiert.

Was folgt, ist weniger ein Krimi als eine Tour de Misère durch ein Island, das offenbar nur noch aus Drogenküchen, Beziehungsleichen und kognitiven Defiziten besteht. Dora und Rado stolpern durch diese kalte Welt, die Autor Jónasson mit viel dunkler Farbe malt, und manchmal hat man das Gefühl, die Figuren waten durch die Seiten wie durch Schlamm.

Der Plot? Eher Therapieprotokoll als Thriller. Jónasson schreibt so, als wolle er die Gesellschaft retten, nicht den Fall lösen. Statt Spannung gibt es Sozialkritik, statt Drive: Debatte. Der Leser lernt viel über isländische Schattenexistenzen, aber wenig darüber, warum ihn das interessieren sollte.

Und als wäre das noch nicht genug, darf Rados Bruder auftauchen, aus dem Nichts und auf „besonderer Mission“. Spätestens da hat sich der Roman endgültig selbst in die Wand geschrieben. Der Versuch, am Ende mit Entführungen, familiären Verstrickungen und einem hektischen Showdown Spannung zu erzeugen, wirkt wie ein Notruf: Hier stirbt der Plot!

Was bleibt, ist ein moralisch aufgeladener, handwerklich solider, aber literarisch erschöpfter Roman. Jónasson will zu viel: Gesellschaftskritik, Charakterstudie, Thriller und verliert dabei alles.

Fazit: Viel Düsternis, viel Wille zur Bedeutung, aber wenig, was fesselt. Wer einen Kriminalroman sucht, bekommt Sozialpädagogik mit Blaulicht. Ich hoffe auf den dritten Teil.




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Veröffentlicht am 8. November 2025