Buchkritik -- Ian Kershaw -- Höllensturz

Umschlagfoto, Buchkritik, Ian Kershaw, Höllensturz, InKulturA Es gibt, wie in jeder wissenschaftlichen Disziplin, die Forscher, die mit Akribie und hohem Zeitaufwand ihr jeweiliges Fachgebiet bearbeiten und dabei Neues, bislang Unbekanntes präsentieren. Dann gibt es die, wie ich sie nennen, Faziteure, die Ergebnisse ihrer Kollegen zur Veröffentlichung eigener, zusammenfassender Werke benutzen.

Im Fall des neuen Buches "Höllensturz" von Ian Kershaw erweist sich der Autor zur Überraschung als Letzterer und gibt das auf den ersten Seiten auch ungeniert zu: "Natürlich bin ich mir dessen bewusst, dass für so gut jeden Satz, den ich geschrieben habe, Fachuntersuchungen in Fülle, oft in hoher Qualität, zur Verfügung stehen… Ein Überblick, wie ich ihn mit diesem Buch biete, wird stets auf den ungezählten Leistungen anderer beruhen." Die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts war geprägt von zwei Kriegen, die den Kontinent an den Rand des Zusammenbruchs geführt haben. Der Grund des zweiten Kriegs lag in den Friedensbedingungen des ersten und das Scheitern der jungen und unerfahrenen europäischen Demokratien leistete dem Vorschub.

Das alles ist bekannt und der Leser fragt sich angesichts der Lektüre, warum Kershaw in seinem Buch trotzdem in vielen Punkten hinter den Stand der Forschung zurückfällt. Zweifelsohne ist jede groß angelegte Zusammenfassung eklektizistischer Natur und belegt die hermeneutische Intention in erster Linie durch das Weglassen von Informationen.

So bedient Kershaw die üblichen Ressentiments bezüglich der Hauptschuld der Deutschen am Ausbruch des Ersten Weltkriegs, verschweigt jedoch die britischen bellizistischen Tendenzen, die mit allen Mitteln versuchten, Deutschland als Konkurrenten auf der europäischen Bühne zu verhindern.

Auch bezüglich der Deutschen Wehrmacht und der ihr vom Autor vorgeworfenen aktiven Mitwirkung an der Vernichtung der osteuropäischen Juden, nimmt Kershaw neuere historische Forschungsergebnisse nicht wahr. Dass die polnische Regierung, in völliger Verkennung der Kräfteverhältnisse und manipuliert durch den britischen Beistandsvertrag, noch 1938 davon sprach, mit einem Reiterheer Berlin zu erobern, ist Kershaw keine Zeile Wert.

Während der Autor bei seinen zusammenfassenden Bemerkungen bezüglich der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der europäischen Staaten weitgehend tendenzfrei arbeitet, kann man das von seiner Darstellung der politischen Entwicklungen gerade in Deutschland und Österreich nicht behaupten. Damit fällt er in weiten Teilen sogar hinter seine Hitler-Biografie zurück, in der er die historisch-politischen Verhältnisse in den beiden Ländern weitaus korrekter beschreibt.

"Höllensturz" ist ein in großen Teilen zeitgeistkonformes und polit-korrektes Buch, das ungeniert den Versuch unternimmt, angesichts der zunehmenden Tendenzen auf die Konzentration nationaler Belange und Präferenzen und die damit einhergehende sukzessive Abkehr vom Brüsseler Politprimat, einmal mehr das Gespenst Nationalstaat an die Wand zu malen.




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Veröffentlicht am 12. November 2016