Buchkritik -- Norbert Gstrein -- Der zweite Jakob

Umschlagfoto, Buchkritik, Norbert Gstrein, Der zweite Jakob, InKulturA Es soll Zäsuren im Leben eines Menschen geben, die dazu angetan sind, Fragen zu stellen, Einhalt erfordern und Rückblick erzwingen. Magische Zahlen sind es, der 30. Geburtstag, der auf dem nach vorn rasenden Zeitpfeil noch Hoffnung platziert und der 60. Geburtstag, der eben diese Hoffnung, die Projektion des Möglichen mit den Entitäten des Wirklichen abgleicht.

Letzterer steht dem Schauspieler Jakob Thurner bevor, der diesem, zu einer offiziellen Feier auszuarten drohenden Datum durch eine US-Reise mit seiner Tochter Luzie aus dem Weg gehen möchte. Gut geplant, doch ihre Frage, was im Leben ihres Vaters das Schlimmste gewesen sei, genauer gesagt, seine Antwort darauf, macht aus den Plänen der gemeinsamen Reise Makulatur.

Thurner war einst anlässlich einer privaten Autofahrt bei Dreharbeiten an der Grenze zu Mexico an einer Unfallflucht beteiligt, deren weibliches Opfer noch vor Ort an den Verletzungen verstarb. Kein guter Ausgangspunkt für die Erneuerung einer ohnehin fragilen Vater-Tochter Beziehung, aber die Gelegenheit Bilanz zu ziehen über ein Leben.

Und das macht Thurner ausgiebig. Distanziert vom Zeitgeist und mit zahlreichen Seitenhieben auf dessen Auswüchse lässt er sein Leben, zu dem drei gescheiterte Ehen gehören, Revue passieren. Aus einem Dorf in Österreich stammend, kam seine Familie durch Hotel- und Skibetriebe zu Wohlstand, der dem Schauspieler, unabhängig von seinen Gagen, einen luxuriösen Lebensstil ermöglicht.

Norbert Gstrein lässt seiner Figur viel Raum und kreist doch immer wieder, gerade nach dem Selbstmordversuch seiner Tochter, um die Frage dessen, was hätte anders sein können. Dabei erfährt der Leser den Mann Jakob Thurner als zugleich weltgewandt und abweisend, als ein Individuum, dessen Selbstwahrnehmung sich eklatant von der seiner Zeitgenossen, hier Kritiker und Kollegen, unterscheidet. So wird aus der ihm von seinem Verlag aufgedrängten Biographie, geschrieben vom unsympathisch-schmierigen Journalisten Elmar Pflegerl, ein nicht autorisiertes Machwerk, das genüsslich in den Thurner immer wieder nachgesagten Klischees wühlt.

Obwohl Jakob Thurner Schauspieler ist, zu dessen, lapidar ausgedrückt, Stellenbeschreibung es gehört, sich immer wieder in die Psychen seiner Figuren hineinzuversetzen, bleibt er, der Mensch Thurner, sich treu. Was die Umwelt, besonders die mit einem herben Seitenhieb bedachten, stets in ihren Rollen ertrinkenden Kollegen, nicht goutieren will.

Was bleibt von einem Leben, das materiell stets gut versorgt, aber emotional leer geblieben ist? Erinnerungen an den von der Fahrerflucht überschatteten Dreh in Mexico und die wohl üblichen Reibereien und Eifersüchteleien und Streitigkeiten – etwas übertrieben das Ehedrama à la Burton/Taylor – der Kollegen? Das zerrüttete Verhältnis zu der etwas labilen Tochter? Das letzte, als Liebe falsch verstandene Verhältnis zu einer viel jüngeren Frau?

Auf diese Fragen gibt es zum Glück keine Antworten. Was bleibt ist nur die in seinem Heimatdorf aufgestellte, in China produzierte lebensgroße Statue. Noch nicht einmal die stellt die Person Jakob Thurner korrekt dar, sondern mit asiatischen Gesichtszügen.

Was ist oder war real? Was wäre gewesen, wenn…? Vielleicht doch nur nach gut zwei Drittel des Lebens ein Sprung vom Sessellift in den frisch gefallenen Schnee, wie einst als kleiner Junge.




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Veröffentlicht am 22. April 2021