Buchkritik -- Emma Jung/Marie-Louise von Franz -- Die Graalslegende

Umschlagfoto  -- Emma Jung/Marie-Louise von Franz  --  Die Graalslegende Die Legende vom Gral ist ein zentrales Motiv in der europäischen Geistesgeschichte. Sie verbindet religiöse Überzeugung und menschliches Streben nach Wahrheit miteinander. Immer enthalten ist die Wahrscheinlichkeit des Irrtums und des Scheiterns. Der Mensch ist in dieses Spannungsfeld eingebunden, aus ihm heraus bezieht er seine Fähigkeiten, aber auch seine ganz persönlichen Tragödien.

Das jetzt als Paperback-Ausgabe vorliegende Buch "Die Graalslegende" untersucht die psychologischen Aspekte und deren Bedeutung für die Gegenwart. Um es gleich vorweg zu sagen: Dieses Buch hat seit seiner ersten Veröffentlichung im Jahr 1960 nichts von seiner Aktualität und Bedeutung verloren. Im Gegenteil kann es in Zeiten der Verwirrung, so wie wir sie gerade erleben, eine große Hilfe sein, dieses zu lesen und zu erleben. Ausgehend von C. G. Jungs Theorien über das Vorhandensein von archetypischen Bildern und Bedeutungszusammenhängen und deren Signifikanz für den Einzelnen und die Allgemeinheit, zeigen die beiden Autorinnen Interpretationsmöglichkeiten und Entwicklungen der unterschiedlichen Gralserzählungen auf.

Unsere seit langem säkularisierte Zeit leidet doch geradezu an einem Mangel an Zielen und Werten. Kaum jemand noch stellt sich die Frage, woher er kommt und wohin er geht. Trotz allem Materialismus, der sich heutzutage mit dem Mantel des Sozialen getarnt hat, ist der Mensch immer noch auf der Suche dessen, was ihn eigentlich ausmacht. Diese Suche führt leider allzuoft in die Oberflächlichkeiten der modernen Freizeitwelt und läßt den Suchenden sich dort in dem klebrigen Netz des Gewöhnlichen und Banalen verfangen.

Dieses Buch jedoch kann dazu beitragen, daß sich der Leser auf seine Wurzeln, die nun einmal bei uns die christlich-europäische Glaubens- und Gedankenwelt darstellt, besinnt. Nun kann und wird niemand verlangen, daß sich der Mensch, ganz dem Mittelalter verbunden, auf ein Pferd (Motorrad) setzt und Abenteuer (Erlebnisurlaub) sucht, wie sie in der Gralslegende geschildert sind. Das würde bedeuten, daß es nicht gelungen ist, die Quintessenz dessen, was die Suche nach dem Gral bedeutet zu verstehen.

Es sind nicht die Abenteuer und Gefahren die uns von aussen drohen, sondern es sind die Wagnisse, die uns aus unserem eigenen Inneren drohen. Streben, Irren, Scheitern oder Gelingen. Das sind die uns immer noch betreffenden Möglichkeiten. Insofern war schon der mittelalterliche Mensch modern, oder der moderne Mensch noch mittelalterlich. Auf alle Fälle kann man einen Bogen ziehen und den Kreis schließen zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft.

Die Zeiten mögen sich ändern, das Wesen des Menschen jedoch bleibt im Prinzip das Gleiche. Die Technik mag voranschreiten doch die moralischen Fähigkeiten und Möglichkeiten des Individuums sind noch mit denen verwandt, die Jahrhunderte vor uns lebten. Auch der moderne Mensch befindet sich noch auf der "Queste". Sein Ziel hat er noch lange nicht erreicht.

Wer sich auch in unserer Zeit die Fähigkeit bewahrt hat, Fragen über sich selber und seinen individuellen Platz in Geschichte und Gegenwart zu stellen, der wird dieses Buch mit Neugier und wachen Ohren lesen. Der Gewinn, den der Leser daraus ziehen kann, ist enorm.




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