Buchkritik -- Thilo Sarrazin -- Europa braucht den Euro nicht

Umschlagfoto  -- Thilo Sarrazin  --  Europa braucht den Euro nicht, InKulturA Wenn politische Ideen wie z. B. die gemeinsame europäische Währung von der Wirklichkeit ad absurdum geführt werden und die herrschenden Eliten trotzdem an diesen Vorstellungen und Plänen festhalten, dann schlägt angewandte Politik in Ideologie um. Dieses neue Weltbild, nunmehr immun gegen Kritik und mit Anzeichen eines fortschreitenden Realitätsverlusts, gewinnt, je größer der Abstand zu den tatsächlich vorhandenen Fakten wird, immer mehr an Fahrt und benötigt zur Selbstlegitimation Durchhalteparolen, wie die von Bundeskanzlern Angela Merkel geäußerte, dass, wenn der Euro scheitert, ebenfalls Europa scheitern würde.

Der am 1. Januar 2002 eingeführte Euro löste die nationalen Zahlungsmittel ab und wurde als neues Bargeld - als Buchgeld wurde er bereits seit 2009 verwendet - benutzt. Die meisten Politiker, Journalisten und Unternehmer sprechen nahezu unisono vom Erfolg und vom wirtschaftlichen Nutzen, den die Eurozone dieser Kunstwährung verdankt.

Neben dem großen Heer der Claqueure in der Politik, den Medien und der Wirtschaft gibt es jedoch zahlreiche kritische Stimmen, die vor den unkalkulierbaren Risiken dieses politischen Traums warnen. Dass diesem gerade in Deutschland eine quasi religiöse Bedeutung zugeschrieben wird, ist es nicht verwunderlich, ebenso wenig die Tatsache, dass den Kritikern dieses Irrwegs ketzerisches Denken und infolge dessen sogar rechtsradikale Tendenzen attestiert werden.

Thilo Sarrazin unterzieht die europäische Entwicklung seit Einführung des Euro in seinem Buch "Europa braucht den Euro nicht" einer kritischen Bestandsaufnahme. Sein Fazit ist eindeutig. Die seit Jahren schwelende Krise im Euroraum ist das Resultat einer sich längst von den realen Verhältnissen des Kontinents entfernt habenden politischen Utopie.

Das Projekt Euro, das, so die ursprüngliche Idee, die europäischen Nationen wirtschaftlich und politisch zu einem ebenbürtigen Partner im globalen Wettbewerb integrieren sollte, ist längst von Scheitern bedroht. Die Zukunft des längst insolventen Griechenlands, dessen Beitritt nur aufgrund gefälschter Zahlen basierte, ist mehr als ungeklärt und in Spanien, Italien und Portugal droht ebenfalls die Zahlungsunfähigkeit.

Der Autor, seit seinen Buch "Deutschland schafft sich ab", in den Kreisen des politischen und medialen Mainstreams ein Enfant terrible, ist, im Gegensatz zu den zahlreichen selbst ernannten "Experten", ein ausgewiesener Fachmann ökonomischer und volkswirtschaftlicher Zusammenhänge. Die Zahlen und Fakten, die Thilo Sarrazin in seinem Buch vorlegt, sind ohne Zweifel beeindruckend, besser ausgedrückt, erschreckend. Vom Leser, der den wirtschaftlichen und finanziellen Argumenten der Autors folgen will, wird eine Menge Geduld und ein rudimentär vorhandenes Wissen um die Zusammenhänge und Interdependenzen vom Geld- und Finanzwirtschaft erwartet.

Die Zahlen sprechen, abseits jeder Interpretation, eine deutliche Sprache. Der Euro hat nicht zu dem wirtschaftlichen Erfolg geführt, den die herrschen Eliten mit diesem Projekt verbinden. Im Gegenteil, das innereuropäische Handelsvolumen hat sich unter dem Strich verringert. Deutschlands Anteil am Handel mit Ländern der Eurozone ist seit Jahren rückläufig. Die Ausfuhren in außereuropäische Länder hat jedoch zugenommen. Genausowenig wie es um die Summe von drei plus zwei - ergibt fünf - Diskussionen geben kann, sind auch die Handelsbilanzen der Euroländer, so Sarrazin, eindeutig. Es gibt die wirtschaftlich starken Nordländer, wie die Bundesrepublik Deutschland, Österreich und die Niederlande und es gibt die nicht so erfolgreichen Länder des Südens wie Griechenland, Italien, Spanien und Portugal.

Das, so meint der Autor zu Recht, liegt unter anderem an den unterschiedlichen Mentalitäten der Mitgliedsstaaten. Während im deutschsprachigen Raum eine große Steuerehrlichkeit auf ein funktionierendes Steuererhebungssystem trifft, sieht es im Süden der Eurozone, wo es historisch geradezu eine bürgerliche Selbstverständlichkeit geworden ist, die Einkommen nach unten zu manipulieren, vollkommen anders aus. Und gerade hier, bei den wesentlichen mentalen Unterschieden, die landesspezifisch zwischen den Völkern des europäischen Raums herrschen, verortet Thilo Sarrazin den grundlegenden Fehler in der Konstruktion der Europäischen Union.

Diese war von Anfang an ein politisches Unternehmen um die vermeintliche Gefahr, die in den Augen europäischer Politiker - besonders der Franzosen - latent von Deutschland ausgeht, auf Dauer einzudämmen. Nach der Sakralisierung des Holocaust ist der Euro die zweite Zivilreligion der Bundesrepublik. Es ist Thilo Sarrazin zu verdanken, dass angesichts des Jubelchors bezüglich des Euro auch unbequeme Wahrheiten an die Oberfläche der gesellschaftlichen Diskussion kommen. Sehr zum Ärger für die über die Deutungshoheit wachenden Jakobiner der Politischen Korrektheit spricht der Autor das aus, was ansonsten im verbalen Geschwurbel über europäische Solidarität und deutsche Verantwortung nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit im Fokus der politisch Verantwortlichen der Bundesrepublik steht: Die Auflösung demokratischer Strukturen und die Abtretung nationaler Interessen an ein europäisches Direktorat durch die Ratifizierung des ESM.

Zusätzlich zu den bereits gemachten Fehlern, der Verstoß gegen den Vertrag von Maastricht durch die Verletzung des Bail-out, der Haftungsübernahme gegenüber Schulden von Drittländern und die Ausweitung der Kompetenzen der Europäischen Zentralbank, die in großem Rahmen Staatsanleihen aufkauft, genauer gesagt, den Markt mit frisch gedrucktem Geld überflutet, wird eine ökonomisch sich mehr und mehr als unsinnig erweisende Politik perpetuiert - auf Kosten eines seit Jahrzehnten währenden guten Verhältnisses der europäischen Staaten untereinander. Thilo Sarrazin hat durchaus Recht, wenn er davon spricht, dass die Stimmung unter den europäischen Nationen noch nie so vergiftet war, wie es aktuell der Fall ist.

Noch jedes politische Versprechen über die Solidität des Euro wurde gebrochen. Süffisant stellt der Autor einen Vergleich an über die von Befürwortern von Kernkraftwerken immer wieder betonte Unwahrscheinlichkeit eines GAU, eines größten anzunehmenden Unfalls - der Kernschmelze - mit den Versicherungen von Befürwortern des Euro in Bezug auf die geringe Wahrscheinlichkeit dass Deutschland in Zukunft seine finanziellen Garantien einlösen muss. Ersteres ist - zumindest in Fukushima - bereits geschehen...

Zwischen den Zeilen kann man auch einen großen Pessimismus des Autors bezüglich demokratischer Funktionen ausmachen. Wer z. B. auf eine Entscheidung, genauer gesagt ein klares Signal des BVG, des Bundesverfassungsgerichts, zur drohenden Ratifizierung des ESM durch das Parlament und dem damit verbundenen Transfer von Entscheidungsbefugnissen nach Brüssel hofft, der wird, so Thilo Sarrazin, vermutlich enttäuscht werden, weil das BVG erfahrungsgemäß der vorherrschenden Meinung des Bundesrates entsprechend - die ist aktuell pro ESM - entscheidet.

"Europa braucht den Euro nicht" bringt die harten Fakten der Realität zur Sprache und man kann sich über die kognitive Dissonanz der herrschenden Elite Deutschlands nur wundern. Das tut anscheinend auch der Autor. Auf Seite 236 vermutet er, dass "...die gemeinsame Währung [...] vorwiegend als Mittel zu einem höheren Zweck diente." Dieser höhere Zweck dürfte, wenn der ESM durch den Deutschen Bundestag gewunken werden sollte, im dauerhaften Zugriff fremder Staaten auf das deutsche Volksvermögen liegen.

Bereits vor Jahren schrieb die Pariser Tageszeitung Le Figaro "Deutschland wird zahlen, sagte man in den zwanziger Jahren. Heute zahlt es: Maastricht, das ist der Versailler Vertrag ohne Krieg." Nach der Lektüre des Buches von Thilo Sarrazin bekommt diese Einschätzung eine beklemmende Dimension.




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