Buchkritik -- Ingo Schulze -- Die rechtschaffenen Mörder

Umschlagfoto,Buchkritik,Ingo Schulze,Die rechtschaffenen Mörder,InKulturA Über dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer noch einen Wenderoman? Ist nicht bereits alles gesagt und geschrieben worden? Systemwechsel und blühende Landschaften als erstes gebrochenes Versprechen. Sehnsuchtsziel D-Mark, der mit dem Wegfallen der Schlagbäume nur noch eine kurze Lebenszeit vergönnt war und die Invasion von Versicherungsvertretern und Investoren, allesamt Spekulanten, die sich am Kadaver eines untergegangenen Staates satt fressen wollten. Schlussendlich Anpassung oder Hartz-IV. „Wir sind das Volk!“, war gestern. Willkommen im goldenen Westen!

Soweit die große Politik. Darunter, auf der Ebene des Persönlichen, des im real existierenden Sozialismus eigentlich verpönten Begriffs des Individuums, lebt der Dresdner Antiquar Norbert Paulini, ein, Dante würde ihn in der Vorhölle unterbringen, Lauer; einer der sich weder für Politik noch für irgendetwas anderes interessiert als für Literatur und Bücher.

Eine Erstausgabe lässt sein Herz höher schlagen als die Montagsdemonstrationen, die nicht zuletzt dafür verantwortlich sind, dass das Leben des Norbert Paulini ebenfalls eine Wende erfährt, die ihn, der lange in seiner Blase, seiner ganz speziellen Nische im Sozialismus gelebt hat, herausstoßen wird.

Ingo Schulze erzählt eine Geschichte, nur vordergründig ein Wenderoman, über Veränderung, Verlust und Scheitern. Im ersten und längsten Teil kann sich der aufmerksame Leser nur schwer des Eindrucks einer gewissen Ostalgie entziehen.

Es war, dafür steht Paulini, nicht alles schlecht, wenn man unter dem Radar der Staatssicherheit blieb, was dem Antiquar, literarisch hochgebildet, aber nicht ganz alltagstauglich, auch gelingt. Nur böse Menschen würden behaupten, dass das geschriebene Wort ein formidabler Schutzschirm gegen die Außenwelt sein kann. Wer zudem Beziehungen hatte, auch darüber verfügte Paulini, der konnte es sich behaglich machen und trotzdem oder vielleicht gerade deswegen regen kulturellen Austausch pflegen.

Im zweiten Teil lernt der Leser den Schriftsteller Schultze – Olalah! – kennen, der die Geschichte über Paulini zu Papier bringen will. Die Beziehung zwischen den beiden ist etwas getrübt, denn dieser Schultze spannte dem Paulini einst dessen Freundin Lisa aus. Das war etwas viel für den bereits Wendegeschädigten, der sein Auskommen mit dem mickrigen Einkommens eines Nachtportiers bestreiten muss, doch immer noch nicht von seinen geliebten Büchern lassen kann.

Der dritte Teil sieht die Lektorin des Schriftstellers auf der Suche nach der Wahrheit hinter den gesprochenen Worten, denn am Ende gibt es zwei unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommene Menschen und eine unbeantwortete Frage.

„Die rechtschaffenen Mörder“ ist ein subtil konstruierter Roman über einen Mann, dem im wahrsten Sinn des Wortes der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Einer, der sich partout nicht anpassen will und der für den unmittelbar nach dem Mauerfall eingetretenen Konsumrausch nur Verachtung hatte. Einer, der aber auch nicht bemerkt hatte, dass jahrelang in seinem unmittelbaren Umfeld eine Stasiratte umtriebig gewesen ist.

Man könnte Norbert Paulini für einen aufrechten Mann halten; einen, den die Zeitläufe unberührt lassen, weil er in sich selber ruht. Doch in Wahrheit ist er ein intellektueller Autist, einer, der lange Zeit mitgelaufen ist, weil das Tempo gemächlich war.




Meine Bewertung:Bewertung

Veröffentlicht am 8. Juni 2020