Buchkritik -- Emmanuel Carrère -- Das Reich Gottes

Umschlagfoto, Buchkritik, Emmanuel Carrère, Das Reich Gottes , InKulturA Ein Mensch wird überzeugter Christ, verliert seinen Glauben und fragt sich hinterher, wie es ersteres geschehen konnte und warum zweiteres eintrat. Auf über 500 Seiten erzählt Emmanuel Carrère seine Version über die Entstehung des Christentums. Immerhin, der Autor ist Schriftsteller, Regisseur und Dokumentarfilmer und so hätte das Buch durchaus das Zeug zu einem Pageturner der intellektuellen Art.

Weit gefehlt! Die ersten hundert Seiten quält Carrère seine Leser mit vielen Redundanzen über seine Jahre als gläubiger Christ. Ganze Hefte hat er vollgeschrieben mit Bibelzitaten und persönlichen Glaubensergüssen und auf einmal, schwuppdiwupp, ist der gute Mann Agnostiker und fragt sich, wie aus einem bösen Traum erwachend, warum um Himmels Willen er und so viele andere, nämlich Millionen Menschen an die Bibel und an den "Erlöser" glaub(t)en.

Wie immer, wenn Apostaten über ihren Fall berichten, man kennt das von zum Nichtrauchen bekehrten Kettenrauchern, wird die persönliche Geschichte unter dem Aspekt der einstmaligen Verwirrung dargestellt und, wie in diesem Fall, ironisch-sarkastisch umgedeutet.

Hat der Leser es geschafft, sich durch die ersten einhundert Seiten zu hangeln, dann wird es so etwas wie eine interessante Lektüre, die unter dem Motto "So hätte es sein können" steht. Im Mittelpunkt von Carrères Fiktion stehen Paulus, der gewandelte Christenverfolger, ohne den das Christentum eine jüdische Sekte von kurzer Lebensdauer geblieben wäre und Lukas, der wortgewandte, jedoch etwas tumbe, so der Autor, Chronist seines Mentors Paulus.

Nehmen wir die Fakten zur Kenntnis, dass kein Autor der Texte des Neuen Testaments Jesus persönlich kannte, dann stellen wir fest, dass bereits deren Schriften Fiktion über eine zu ihrer Zeit umstrittene Person waren. Saulus zu Paulus geworden, ein verbitterter und verbiesterter Verkünder einer immerhin jüdischen Lehre, die jedoch im Lager der Traditionalisten keinen Anklang fand, schickte sich mit Erfolg an, daraus eine Religion zu machen.

So weit, so gut. Was jetzt allerdings Carrère daraus macht, immer mit der Intention, seine Zeit als "Gläubiger" kritisch zu hinterfragen, ist eine Mischung aus Fakten und Fiktionen, eine "es könnte so gewesen sein" Geschichte mit persönlichen Einschüben, die den Leser spätestens dann, als der Autor auf über vier Seiten einen Internetporno goutiert, in dem eine Frau sich kunst- und stilvoll selber stimuliert, in Versuchung führt, dass Buch beiseite zu legen.

Der Frage, warum Menschen an Gott Glauben, kommt er jedenfalls keinen Millimeter näher.




Meine Bewertung:Bewertung

Veröffentlicht am 20. April 2016